Armut

Streetwear gegen Jugendarmut

Jugendarmut ist zwischen Kinderarmut und Armut allgemein aus dem Blick geraten. Der Armutsspirale will der Frankfurter Jugendring (FJR) entgegenwirken. Er hat eine Kampagne gegen Jugendarmut gestartet. Teil der Kampagne ist, auf eine besondere Art und Weise Jugendarmut sichtbar zu machen: Mit Streetware. Wir sprachen mit Vanessa Lehr, Sébastien Daudin, Maren Burkhardt und Anna Latsch vom Frankfurter Jugendring (FJR).

Was sind zentrale Probleme der Jugendarmut?

Wer als Jugendliche*r in Armut aufwächst, hat nicht nur erschwerte Bedingungen während des Aufwachsens. Es besteht die große Gefahr, als Erwachsene*r von Armut betroffen zu sein. Dieser Armutsspirale („wer arm aufwächst, bleibt auch arm“) wollen wir entgegenwirken.

Obwohl es nicht ihre Armut ist, sondern die der Eltern, ist das Leben der Kinder und Jugendlichen von Armut geprägt. Wer kein Frühstück zuhause hatte und hungrig in der Schule sitzt, hat eine niedrigere Leistungsfähigkeit im Vergleich zu anderen Schüler*innen. Die Chance, einen guten Schulabschluss zu erreichen, ist geringer. Fehlende finanzielle Mittel schließen Kinder und Jugendliche meist von der Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben aus – von Orten der informellen Bildung, die wichtige Lernorte für die persönliche Entwicklung sind.

Kinder und Jugendliche müssen mit Schamgefühlen klar kommen. Mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit und der Stigmatisierung. Es entstehen Minderwertigkeitsgefühle: Sie trauen sich weniger, für sich zu kämpfen, beispielsweise für gute Noten oder einen Ausbildungsplatz.

Wir setzen den Fokus auf Jugendarmut, weil in Deutschland die Kinderarmut deutlich mehr in den Blick genommen wird als die Jugendarmut. Es gibt weniger Hilfsleistungen und -angebote für Jugendliche, um Auswirkungen der Armut aufzufangen. Die Akzeptanz gegenüber Jugendlichen und ihren Problemen ist nicht so hoch wie für Kinder denn „Kinder sind niedlich, Jugendliche nerven“.

Wie sieht Jugendarmut in Frankfurt aus?

Fast jedes vierte Kind unter 18 lebt in Frankfurt in einer Bedarfsgemeinschaft. Auch Kinder und Jugendliche in Familien, die nicht als Bedarfsgemeinschaft gelten, müssen oft Einschränkungen in verschiedensten Bereichen hinnehmen, auch wegen der hohen Lebenshaltungskosten in Frankfurt. Bezahlbarer Wohnraum für Familien ist rar und Mieten sind eine hohe Belastung (nicht nur) für Familien.

Unsere Jugendverbände und offenen Einrichtungen zeichnen ein erschreckendes Bild von Kinder- und Jugendarmut in ihrer alltäglichen Arbeit in Gruppenstunden, bei Freizeiten oder in offenen Einrichtungen. Immer mehr Kinder und Jugendliche können nicht auf Freizeiten fahren, weil das Geld der Eltern für den Teilnahmebeitrag nicht reicht. Oft ist schon der erste Euro das Problem. Das heißt, auch Angebote mit geringen Kosten werden nicht angenommen. Viele Kinder und Jugendliche bekommen häufig erst in der offenen Einrichtung etwas Richtiges zu essen, und das erst nachmittags. Es werden Ausreden gesucht, um nicht Geburtstagseinladungen anzunehmen, weil das Geld für ein Geschenk nicht da ist.

Der rasante Bevölkerungszuwachs in der Stadt erhöht zusätzlich den Druck auf dem Wohnungsmarkt, auf die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum. Das bedeutet vor allem für ärmere Familien Einschnitte und eine schwierige Wohnsituation: Kinder und Jugendliche müssen sich das Zimmer mit immer mehr Geschwistern teilen. Küchen werden in Wohnraum umgewandelt, eine Möglichkeit zum Kochen gibt es nicht. Ärmere Familien werden an den Rand der Stadt gedrängt, sie wohnen an lauten Hauptstraßen bzw. an der Autobahn oder sind von Fluglärm geplagt. Dadurch steigt der Bedarf an Erholungs- und Freizeitmöglichkeiten, um einen Ausgleich zum „armen“ und stressigen Alltag zu schaffen.

Worauf zielt eure Kampagne?

Wir wollen das Thema Jugendarmut in das Zentrum der Diskussion und in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. Wir wollen deutlich machen, dass Armut kein Makel ist und alle treffen kann. Wir wollen Bündnispartner finden und die Politik zum Handeln bewegen. Wir wollen einen eigenen Beitrag leisten und verfolgen dabei das Ziel: Jeder Jugendliche in Frankfurt soll jährlich bei einer Ferienfreizeit mitfahren können, unabhängig von der Einkommenssituation der Eltern.

Was sind die zentralen politischen Forderungen?

Unsere politischen Forderungen konzentrieren sich auf bezahlbaren Wohnraum, Teilhabe und Mobilität, Bildung und Betreuung, Freizeit sowie die Verankerung des Themas als Querschnittsaufgabe in der Verwaltung und Bildungseinrichtungen.

Wie kann denn bezahlbarer Wohnraum sichergestellt werden?

Ein Eingreifen der Politik ist in Frankfurt unabdingbar, weil Wohnraum eine äußerst knappe Ressource und Spekulationsobjekt geworden ist. Der freie Wettbewerb hat die Probleme bisher nicht gelöst. Neben neuem, subventioniertem Wohnraum, einer effizienten Mietpreisbremse und einer Milieuschutzsatzung müssen noch mehr Anreize für private Investor*innen und Hausbesitzer*innen geschaffen werden, damit Familien Zugang zum bezahlbaren Wohnraum bekommen. Sie konkurrieren oft mit zahlungskräftigen Singles und Paaren, die höher in der Gunst von Vermieter*innen stehen.

Und wie kann Mobilität und Teilhabe von Jugendlichen gesichert werden?

Öffentlicher Nahverkehr sollte für alle bis 18 Jahre oder bis zum Abschluss der ersten Ausbildung grundsätzlich kostenlos sein. Die heutige Rabattpolitik löst zwei wesentliche Probleme nicht: Bestimmte Familien wissen nicht von den Rabatten oder schämen sich, diese zu beantragen. Zudem ist die Antragstellung aufwändig. Andere Familien, deren Einkommen über einer bestimmten Grenze liegen, haben zudem keinen Anspruch, obwohl der Bedarf vorhanden ist.

Welchen Stellenwert hat Freizeit für Jugendliche, die von Armut betroffen sind?

Freizeitaktivitäten und Urlaub sind die ersten Posten im Budget einer Familie, die wegfallen, wenn das Geld knapp ist. Für Kinder und Jugendliche ist deshalb die Teilnahme an Ferienfreizeiten, die von Jugendverbänden oder offenen Einrichtungen angeboten werden, meist die einzige Möglichkeit, um aus Frankfurt raus zu kommen. Außerdem sind Freizeiten eine gute Möglichkeit, mal den Alltag zu vergessen, ohne den „Armuts-Stempel“ mit Gleichaltrigen wertvolle soziale Erfahrungen zu machen, als Person gestärkt zu werden. In den Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit gibt es Angebote, ohne dass jemand Geld zahlen muss. Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen in schwierigen Situationen.

Haben arme Jugendliche eigentlich die gleichen Chancen auf Bildung und Betreuung?

Viele Studien, etwa der OECD machen immer wieder deutlich: In Deutschland sind Schulabschluss und Ausbildung in einem hohen Maß an den Bildungsstand der Eltern gekoppelt. Um aus einer Armutsspirale herauszukommen, wenn Eltern geringer beruflich qualifiziert sind, muss es Unterstützungsangebote für Jugendliche geben. Sie müssen einen guten Schulabschluss machen können und die Grundlage für eine gute Berufsausbildung legen.

Die Kampagne wird begleitet durch den Verkauf von Streetwear. Wie seid ihr auf die Idee gekommen?

Unser Wunsch war, ein klares und provokantes Zeichen zu setzen. Die Streetwear ermöglicht eine Solidarisierung und schafft eine langfristige Präsenz in der Öffentlichkeit. Die Idee ist in Zusammenarbeit mit unserer Werbe-Agentur U9 visuelle Allianz entstanden. Uns wurde schnell klar, dass wir damit eines der Grundprobleme der Armut ansprechen: Wir wollen Armut sichtbar machen und durch das Tragen eines T-Shirts auf die Problematik hinweisen, während Betroffene ihre Armut oft verheimlichen und sich schämen. Armut hat keine Lobby, weil die Betroffenen mit aller Mühe versuchen, ihren vermeintlichen Makel in der Öffentlichkeit zu verstecken.

Welche Maßstäbe gelten für die Produktion der Streetwear?

Uns war wichtig, dass das Produkt nach vielen Aspekten vertretbar ist: bio, nachhaltig und fair hergestellt. Außerdem war uns wichtig, lokale Partner*innen zu finden, die hinter der Idee stehen und uns bei Realisierung und Vermarktung zur Seite stehen. Die Produktion der Kleidungsstücke übernimmt ein Hersteller, der gemäß unseren Anforderungen zertifiziert ist. Ein Frankfurter Familienunternehmen bedruckt die T-Shirts. Den Versand wickelt eine gemeinnützige Tagesstätte für psychisch kranke Menschen ab.

Sind von Armut betroffene Jugendliche selbst in das Projekt eingebunden?

Die armTM-Kleidungsstücke sind nicht dazu gedacht, dass sie von betroffenen Jugendlichen gekauft und getragen werden, sondern von Menschen, die sich solidarisch zeigen wollen, sowohl in Form einer Spende als auch mit dem Tragen der Kleidung.

Was geschieht mit den Einnahmen?

Die Einnahmen aus dem Verkauf decken die Kosten der Herstellung. Bei jedem Verkauf ist eine Spende von mindestens zehn Euro enthalten, die auf einem Spendenkonto landet. Dieses Geld bildet den Ferien-Fonds, den wir im Rahmen der Kampagne geschaffen haben. Geld für den Fonds kann auch direkt gespendet werden.

Was macht der Fonds konkret?

Mit dem Fonds werden Teilnahmebeiträge für Ferienfreizeiten der Jugendverbände des Frankfurter Jugendrings – einschließlich Maßnahmen offener Einrichtungen – bis zu 100 Prozent bezuschusst. Jugendverbände melden uns den Bedarf, wir übernehmen einen Teil oder den gesamten Teilnahmebeitrag. Jeder Jugendliche und jedes Kind, das von Armut betroffen ist, soll mindestens einmal im Jahr auf eine Ferienfreizeit fahren können, um dem Alltag zu entkommen und wichtige Gruppenerlebnisse mit Gleichaltrigen abseits von Schule und Familie machen zu können.

Wie erfahren Jugendliche von der Möglichkeit, den Fond zu nutzen?

Die Freizeiten der Jugendverbände werden mit dem Hinweis beworben, dass eine finanzielle Unterstützung möglich ist. Die Verbände bewerben ihre Freizeiten selbst oder veröffentlichen sie auf unserem Ferienportal Frankfurt-Macht-Ferien.de.

Im konkreten Fall sprechen die Jugendlichen bzw. deren Eltern den jeweiligen Verband an, ob ein Zuschuss möglich ist. Es ist den Verbänden überlassen, wie sie die Anfragen prüfen. Das Verfahren soll unbürokratisch und bedarfsorientiert erfolgen – ohne Vorlegen von Nachweisen, weil das oft eine zusätzliche Hürde für die Beantragung einer finanziellen Hilfe ist. In vielen Fällen wissen auch die Mitarbeitenden in den Verbänden oder Einrichtungen selbst von der finanziellen Situation der Familie, weil sie mit den Kindern im Alltag arbeiten.

Ist es denn in Ordnung, sich zunächst nur auf die Jugendarbeit zu konzentrieren?

Wir sind die Lobby aller Kinder und Jugendlichen in der Stadt. Alle müssen die Chance bekommen, aus der Armutsspirale herauszukommen. Weil sie es selten in der eigenen Hand haben, braucht es stigmatisierungsfreie Räume und Ansprechpersonen, die sie in den Einrichtungen und Angeboten der Jugendverbände finden können. Dort finden sie eine vertrauensvolle Unterstützung, sie erlangen neue Kompetenzen und können sich erholen.

Zur Bekämpfung der Jugendarmut gibt es viele Bereiche und Maßnahmen, in denen wir klare Forderungen stellen. Aber Freizeiten gehören zum Kerngeschäft von Jugendverbänden, neben regelmäßigen Gruppenstunden zum Beispiel. Eigene Räume und gemeinsame Erlebnisse mit Gleichaltrigen sind unentbehrlich, um eine eigene Identität auszubilden und einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Es ist eine bewusste Entscheidung, dass die Spendengelder nur zur Bezuschussung von Freizeiten angelegt sind. Urlaub und Freizeitaktivitäten sind die ersten Ausgaben, die gestrichen werden, wenn das Geld knapp ist. Es ist auch der Bereich, bei dem die Armut am wenigsten „sichtbar“ ist und kaum thematisiert wird, weil man sich oft zunächst auf die Grundbedürfnisse konzentriert, etwa Essen, Wohnraum und Bildung.

Wie nehmt ihr eigentlich Stadt und Staat in die Verantwortung?

Unsere Forderungen haben wir an den Oberbürgermeister, an die Stadtverordneten, Fraktionen und Ämter weitergereicht. Sie sind immer wieder Thema in den Gremien und zivilgesellschaftlichen Netzwerken, in denen wir vertreten sind.

2010 hatten wir eine erste Kampagne gegen Kinderarmut. In der Folge wurden eine Reihe von erforderlichen Maßnahmen im Bereich der Jugendhilfe analysiert, um Auswirkungen der Armut bei Kindern und Jugendlichen aufzufangen. Sie mündeten in einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung 2012 zur Bekämpfung der Jugendarmut. Ende 2017 wurde in einem Sachstandsbericht vorgestellt, was von den geplanten Maßnahmen umgesetzt wurde. Das Ergebnis war aus unserer Sicht erschreckend: Nur wenige Fortschritte wurden erzielt. Seitdem fordern wir mit Nachdruck die Stadtverordnetenversammlung auf, die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen ernsthafter zu betreiben.

Bringt die Kampagne und Aktion also etwas? Gehen beide weiter?

Die Resonanz auf unsere Kampagne war sehr positiv, das Thema fand stärker Anklang in der Frankfurter Stadtpolitik und -gesellschaft. Ein Zusammenhang mit neuen Maßnahmen der Frankfurter Stadtpolitik lässt sich zwar nicht unmittelbar erkennen. Der Beschluss des Magistrats, die Betreuungskosten in Kitas für Kinder ab drei Jahren komplett abzuschaffen, entspricht jedoch einer unserer Forderungen im Bereich Bildung/Betreuung.

Wir haben Interesse bei Partner*innen und Fachleuten geweckt, gemeinsam am Thema mit uns weiter zu arbeiten. Wir haben die Idee, eine jährliche Konferenz zum Thema in Frankfurt zu institutionalisieren. Wir werden in Oberstufen unsere Kampagne vorstellen und mit den Schüler*innen diskutieren. Das zeigt auch, dass unser Anliegen durchaus auf Resonanz trifft.

Das armTM-Label kommt gut an. Zusätzlich zum Online-Vertrieb auf armtm.de sind bisher sechs lokale Händler*innen in Frankfurt eingestiegen und haben die armTM-Kleidung in ihr Sortiment aufgenommen. Der Verkauf läuft gut, der Ferien-Fonds wächst, die ersten Kinder haben bereits vom Ferien-Fonds für eine Ferienfreizeit in den Sommerferien 2018 profitiert.

Die Kampagne erzielt auch überregional Resonanz. Jugendverbände und andere Jugendringe haben Interesse an verbandseigenen Sonderkollektionen oder wollen das Label lokal in anderen Städten vertreiben. Der Spendenanteil aus jedem Verkauf würde den Kindern und Jugendlichen der Stadt zugutekommen, in der die Kleidung gekauft wurde. Eine mögliche bundesweite Reichweite braucht aber eine längere Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlichen Modell des Projekts und der Suche von lokalen Partner*innen in den jeweiligen Städten. Aber sie sind bereits im Gange. Die Kampagne ist definitiv auf einen längeren Zeitraum angelegt.

Wenn andere die Idee kopieren wollen: Worauf kommt es an?

Erstmal eine coole, moderne, jugendgerechte und provokante Ansprache finden. Dann auf die Nachhaltigkeit des Produkts achten, so dass Herstellung und Abwicklung nicht auf Kosten anderer oder der Umwelt gehen. Lokale Partner*innen finden und gewinnen, die hinter der Idee stehen und den lokalen Charakter unterstützen. Und zuletzt: Unbürokratische Wege finden, damit eine Förderung durch den Ferien-Fonds nicht wie bei üblichen Hilfeleistungen vom Ausfüllen von Anträgen und dem Vorlegen von Dokumenten abhängig ist.

Weitere Informationen auf der Kampagnenseite.
 
Zu den Personen:

  • Vanessa Lehr war zum Zeitpunkt des Interviews Vorsitzende des Frankfurter Jugendrings (FJR).
  • Sébastien Daudin ist Referent der Geschäftsstelle des Frankfurter Jugendrings (FJR).
  • Maren Burkhardt ist Referentin in der Geschäftsstelle des Frankfurter Jugendrings (FJR).
  • Anna Latsch ist Geschäftsführerin in der Geschäftsstelle des Frankfurter Jugendrings (FJR).

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Der Beitrag ist 2018 erschienen in der Publikation: So geht Nachhaltigkeit! Deutschland und die globale Nachhaltigkeitsagenda - Zivilgesellschaftliche Initiativen und Vorschläge für nachhaltige Politik

Themen: Armut