Paragraf 72a SGB VIII nachbessern

Die DBJR-Vollversammlung hat am 25./26. Oktober 2013 die Position „Paragraf 72a SGB VIII nachbessern – Bundeskinderschutzgesetz praxisnah weiterentwickeln!“ beschlossen:

Die Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendring (DBJR) stellt fest, dass die Umsetzung von Paragraf 72a (Einsichtnahme in erweiterte Führungszeugnisse von Ehrenamtlichen) zu erheblichen Problemen und Rechtsunsicherheiten für die freien Träger in der Jugendarbeit führt.

Generell hält der DBJR an seiner Einschätzung fest, dass die Prüfung der Führungszeugnisse von Ehrenamtlichen nur in den seltensten Fällen ein geeignetes Mittel ist, um sexualisierte Gewalt von Ehrenamtlichen an Teilnehmenden zu verhindern[1]. Wirksamer Kinderschutz und der Schutz vor sexualisierter Gewalt ist insbesondere durch Qualifizierung und Sensibilisierung sowie durch weitere Maßnahmen zur Prävention zu erreichen. Der formelle Akt der Überprüfung von Führungszeugnissen bindet Arbeitszeit, ehrenamtliches Engagement und Ressourcen, die sinnvoller für präventive pädagogische Angebote verwendet werden könnten.

Die Vollversammlung des DBJR fordert daher eine Anpassung der gesetzlichen Vorgaben und eine Vereinfachung des Gesetzesvollzuges insbesondere zur Entlastung der ehrenamtlichen Strukturen der Jugendarbeit. Zudem sind trotz der vielfach intensiven Umsetzungsbemühungen in den Landkreisen und kreisfreien Städten auch bei vielen Jugendämtern erhebliche Rechtsunsicherheiten und ein hoher Vollzugsaufwand vonnöten um eine Umsetzung der Paragraf 72a SGB VIII in die Wege zu leiten. Dies führt zu sehr unterschiedlichen Umsetzungskonzepten in den einzelnen Landkreisen und verunsichert insbesondere die freien Träger, deren verbandliche Tätigkeit sich nicht auf einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt beschränkt.

Der DBJR fordert die neue Bundesregierung auf, bei der anstehenden Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) über die rein technische Gesetzesevaluation hinauszugehen. Es ist in den Blick zu nehmen, ob die eigentliche Gesetzesintention eingetreten ist, eine qualitative Verbesserung beim Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt durch die im Gesetz vorgeschriebenen Mittel zu erreichen. Dabei soll auch geprüft werden, ob dafür nicht andere Mittel effektiver sind, etwa die von Jugendverbänden implementierten umfassenden Präventionskonzepte.

Bei der Gesetzesevaluation muss auch geprüft werden, ob unerwünschte Nebenwirkungen eingetreten sind oder noch eintreten können. Solche negativen Nebenwirkungen können sich sowohl auf die Prävention sexualisierter Gewalt beziehen als auch auf die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere wenn diese im Rahmen freiwilligen Engagements erbracht werden. Hier sind vor allem die Zuwächse an Bürokratie durch die Einsicht in erweiterte Führungszeugnisse in den Blick zu nehmen.

Auf Grund der bisherigen Feststellungen fordert der Deutsche Bundesjugendring die Lösung der folgenden Probleme bei der Umsetzung der gesetzlichen Regelung:

1.    Ablauf der Einsichtnahme

In der Jugendarbeit tätige Personen, darunter auch viele ehrenamtliche Funktionsträger_innen, sind zur Einsichtnahme und Bewertung der Inhalte verpflichtet. Das belastet das Ehrenamt und baut Bürokratie und Haftungsrisiken für die Ehrenamtlichen auf. Der bürokratische Aufwand ist enorm hoch (Ausstellen der Aufforderung zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses, Antragstellung, Einsichtnahme in Führungszeugnisse, Dokumentation, Konkretisierung der Mustervereinbarungen nach örtlichem Bedarf, Abschluss von Vereinbarungen, Kontroll- und Wiedervorlagepflichten etc.)

Der DBJR fordert daher die Schaffung einer zentralen beim Bundeszentralregister angesiedelten Abfragemöglichkeit, bei der dem oder der Anfragenden ausschließlich die Information mitgeteilt wird, ob ein Tätigkeitsausschluss nach Paragraf 72a SGB VIII aufgrund einer einschlägigen Vorverurteilung vorliegt. Die bürokratischen Anforderungen sind auf ein Minimum zu verringern.

2.    Inhalte des erweiterten Führungszeugnisses

Falls die Schaffung einer Abfragemöglichkeit (siehe 1.) nicht umgesetzt wird, fordert der DBJR hilfsweise folgendes:

  • Das erweiterte Führungszeugnis beinhaltet neben den gemäß Paragraf 72a SGB VIII einschlägigen Verurteilungen auch alle anderen im „normalen“ Führungszeugnis abgebildeten Verurteilungen. Diese muss der oder die Einsichtnehmende nicht kennen.
  • Der DBJR fordert daher, das jetzige erweiterte Führungszeugnis durch eine andere Variante des Führungszeugnisses zu ersetzen, in der ausschließlich die Verurteilungen aufgeführt werden, die für einen Tätigkeitsausschluss nach Paragraf 72a SGB VIII einschlägig sind. Das Bundeszentralregistergesetz (BZRG) ist entsprechend zu ändern.

3.    Zuständigkeit zum Vereinbarungsabschluss

Für die Vereinbarungspartner ist die Umsetzung des Paragrafen 72a SGB VIII mit einem sehr hohen Aufwand verbunden. Mitunter ist es für die öffentlichen Träger gar nicht möglich, sämtliche möglicherweise betroffenen freien Träger der Jugendhilfe im Landkreis bzw. der kreisfreien Stadt festzustellen. Rahmenvereinbarungen mit den freien Trägern auf regionaler Ebene oder Landesebene sind aufgrund der innerverbandlichen Strukturen der freien Träger häufig nicht möglich. Auch die Zuständigkeit der öffentlichen Träger auf der kommunalen Ebene ist aufgrund der Zuständigkeiten nach dem SGB VIII nicht abdingbar.

Der DBJR fordert daher die Schaffung von gesetzlichen Regelungen, nach denen die zuständigen Vertragspartner eindeutig bestimmt werden und erleichterte Vereinbarungsformen festgeschrieben werden. Die in Paragraf 72a SGB VIII betroffenen freien Träger sollten unmittelbar in der gesetzlichen Regelung auf die anerkannten bzw. geförderten freien Träger beschränkt werden. Der Begriff der maßgeblichen Förderung ist eindeutig bestimmt zu regeln.

4.    Datenschutzregelung

Die Regelung des Paragraf 72a Absatz 5 SGB VIII ist nicht in angemessener Weise umsetzbar. Während der freie Träger sich im Haftungsfall exkulpieren und darstellen muss, dass er seiner Verpflichtung aus der Vereinbarung nachgekommen ist, postuliert Paragraf 72a Absatz 5 SGB VIII die Unzulässigkeit der Dokumentation der Einsichtnahme bzgl. der eingesetzten Ehrenamtlichen.

Der DBJR fordert die Regelung so zu ändern, dass die zeitlich befristete Speicherung minimaler, eindeutiger Daten (Name, Datum des Führungszeugnisses und der Einsichtnahme) gesetzlich erlaubt wird.

5.    Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe

In Paragraf 72a SGB VIII werden diverse unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet. Gesetzliche Regelungen und Begriffe müssen jedoch  aus sich heraus bestimmbar sein. Das ist bei den kombinierten unbestimmten Rechtsbegriffen des Paragraf 72a SGB VIII (Ehrenamt, Nebenamt, Art, Intensität, Dauer, vergleichbare Kontakte) nicht der Fall. Daher werden die Verantwortung der Definition dieser Begriffe und damit das Haftungsrisiko systematisch von der Bundes- auf die Landesebene, von dort weiter auf die kommunale Ebene und schließlich auf den freien Träger weitergereicht.

Der DBJR fordert daher eine klare gesetzliche Regelung, die die unbestimmten Rechtsbegriffe durch bestimmbare Kriterien ersetzt und damit das Bestimmtheitsgebot erfüllt. Hierzu sollte eine Risikoanalyse genutzt werden und geprüft werden, welche einschlägig vorverurteilten Tätergruppen erneut einschlägige Taten begangen haben und durch eine entsprechende Einsichtnahme daran gehindert gewesen wären. Nicht relevante Gruppen sollten von der Regelung ausgenommen werden.

6.    Beschränkung der Einsichtnahme/Vorlagepflicht auf Personen, die tatsächlich Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben

Die ausnahmslose Vorlagepflicht für alle Beschäftigen nach Paragraf 72a Absätze 1 und 2 ist unverhältnismäßig, da in bestimmten Arbeitsbereichen mangels Kontakt zu Kindern und Jugendlichen keinerlei Gefahr für Kinder und Jugendliche entstehen kann.

Der DBJR fordert daher eine Begrenzung der Vorlagepflicht auf Beschäftigte, die gemäß der Stellenbeschreibung bzw. den konkreten Aufgaben dieser Stelle regelmäßigen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben. Paragraf 72a SGB VIII ist entsprechend anzupassen.

7.    Gesetzliche Festschreibung der Kostenfreiheit

Nach wie vor ist die kostenfreie Erteilung der erweiterten Führungszeugnisse für Ehrenamtliche nicht rechtsverbindlich geregelt.

Der DBJR fordert daher eine solche Festschreibung sofern nicht die unter 1. geforderte zentrale und kostenfreie Abfragemöglichkeit bereitgestellt wird.

8.    Internationale und grenzüberschreitende Einsätze von Ehrenamtlichen

Die  Regelung des Paragraf 72a SGB VIII enthält keine Vorgaben, ob und wie bei internationalen Maßnahmen und Veranstaltungen ein Tätigkeitsausschluss zu prüfen ist. Bei Ehrenamtlichen, die nicht in Deutschland gemeldet sind, ist die Prüfung eines erweiterten Führungszeugnisses regelmäßig nicht geeignet.

Der DBJR fordert daher eine eindeutige und rechtssichere Beantwortung dieser Vollzugsfrage.

Der DBJR erinnert die Bundesregierung daran, dass sich alle Regelungen zum Kinderschutz im SGB VIII auf Maßnahmen und Träger der öffentlich geförderten Kinder- und Jugendhilfe beschränken. Damit greifen diese nicht für die vielen Bereiche, in denen Gefährdungslagen bestehen, die nicht Teil der Kinder- und Jugendhilfe sind. Beispielsweise sind kommerzielle Anbieter von Angeboten für junge Menschen nicht von diesen Regelungen erfasst. Die Ergebnisse des Runden Tisches ernst zu nehmen bedeutet aus Sicht des DBJR, Konzepte zum Schutz junger Menschen vor sexualisierter Gewalt auch außerhalb der öffentlich geförderten Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und umzusetzen.

Es ist Aufgabe der neuen Bundesregierung parallel zur Evaluation des Bundeskinderschutzgesetztes hier aktiv zu werden.

Mehrheitlich bei vier Enthaltungen beschlossen auf der 86. Vollversammlung 2013 in Magdeburg.

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[1] vergleiche u.a. Position 46 - Empfehlung des Vorstands des Deutschen Bundesjugendring zur Umsetzung des Paragraf 72a KJHG (Persönliche Eignung von Fachkräften), 2006