Armut

Kinder- und Jugendarmut ernst nehmen

Die DBJR-Vollversammlung hat am 28./29. Oktober 2011 die Position „Kinder- und Jugendarmut als Problem ernst nehmen -Bildungs- und Teilhabepaket nachbessern“ beschlossen:

Mehr als jedes siebte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Dies belegen die ak­tuellen Zahlen: 14,4 Prozent der unter 6-jährigen, 16,4 Prozent der 6- bis 15-jährigen und 23,9 Prozent der 15- bis 18-jährigen Jugendlichen wachsen in Armut auf (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bun­desregierung). Die Zahl armer Kinder und Jugendlicher steigt seit Jahren kontinuierlich. In ihrer Arbeit werden die Jugendverbände verstärkt damit konfrontiert, dass die materielle Absicherung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nicht ausreicht.  Sie reagieren hierauf mit Angeboten und Maßnahmen, die so gestaltet werden, dass sie allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrem sozio-ökonomischen Hintergrund offen stehen. Schon immer gehörte es zu den Prinzipien der Jugendverbände, möglichst allen Kindern und Jugendlichen eine Teilhabe an den Angeboten zu ermöglichen. Steigende Kosten für Maßnahmen (Teuerungsrate) und stagnierende Familieneinkommen und sinkende Förderung haben diese Praxis an den Rand des Leistbaren geführt. Kinder- und Jugendarmut lässt sich nicht allein durch die Anstrengungen der betroffenen Familien und der Zivilgesellschaft bekämpfen. Sie ist Ausdruck einer wachsenden strukturellen Benachteiligung ganzer Bevölkerungsgruppen, die systematisch von einer gerechten Teilhabe am Wohlstand der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen werden. Ursächlich sind dafür auch die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und das Fehlen eines gesetzlichen Mindestlohns.

Die Folgen für die betroffenen Kinder sind gravierend: Armut bedeutet soziale Ausgrenzung, schlechte Bildungschancen, höheres Risiko von Gesundheitsproblemen und schlechte Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe. Für junge Menschen, die am Anfang ihres Lebensweges stehen, bedeutet Armut oft den Verlust der persönlichen Zukunftsperspektiven und des Vertrauens in die Gesellschaft, weil die Chancen auf Bildung, Beteiligung, berufliche Qualifizierung und schließlich Teilhabe am Erwerbsleben massiv eingeschränkt sind.

Das Ausmaß der Kinder-und Jugendarmut in Deutschland ist immer noch ein gesellschaftlicher Skandal. Jungen Menschen werden ihrer Zukunft beraubt; dies gefährdet den sozialen Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Gerade in Zeiten des beschleunigten demografischen Wandels muss Politik für gerechte Lebenschancen für alle jungen Menschen sorgen. Kinder- und Jugendarmut im jetzigen Ausmaß bedeutet auch, dass die in Verfassung und UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte dieser jungen Menschen mit Füßen getreten werden.

„Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ muss auch ökonomische Konsequenzen haben

Nach jahrelanger Tatenlosigkeit mehrerer Bundesregierungen wurden schließlich vom Bundesverfassungsgericht deutliche Verbesserungen in der Sozialgesetzgebung des Bundes erzwungen. Die verfassungsmäßigen Teilhaberechte armer Kinder und Jugendlicher sind damit allerdings immer noch nicht erreicht, denn die Umsetzung dieser Vorgaben im sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket war von Anfang an durch erhebliche strukturelle und praktische Mängel gekennzeichnet. Bereits in seiner Anlage und seinem Umfang blieb es weit hinter dem zurück, was zu einer nachhaltigen Armutsbekämpfung erforderlich gewesen wäre (vgl. DBJR Beschluss „Armut hat junge Gesichter“, Vollversammlung 2010). Fachleute gehen davon aus, dass zentrale Teile – etwa die Regelsatzberechnung – nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes erfüllen. Darüber hinaus hat die Art und Weise des Aushandlungsprozesses des Paketes den Eindruck verstärkt, dass große Teile der Bundes- und Landespolitik nicht an einer nachhaltigen Sicherung der Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen interessiert sind. Darüber hinaus wurden die dringenden Empfehlungen hinsichtlich der Ausgestaltung im Detail – etwa aus der Kinder- und Jugendhilfe – übergangen, was zu erheblichen Umsetzungsproblemen führt.

Daher erneuert der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) seine grundsätzliche Kritik am Bildungs- und Teilhabepaket. Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft ist nicht allein durch die jeweiligen Familien abzusichern, es geschieht auch in öffentlicher Verantwortung. Die Entscheidung für Kinder bedeutet immer noch für zu viele Menschen das Risiko, in Armut zu fallen.  Konsequenz daraus kann nur sein, dass die gesamte Gesellschaft auch die Verantwortung für die materielle Lebensbasis für junge Menschen bis zu deren Verselbstständigung in einem wesentlich höheren Maße übernehmen muss als bisher. Wer sich dieser Einsicht sperrt, der entscheidet sich damit gleichzeitig für eine weiter sinkende Geburtenrate und eine wachsende Zahl junger Menschen ohne echte Chancen. Eine nachhaltige Absicherung des Lebensstandards und der Teilhabe junger Menschen verlangt eine grundsätzliche Verbesserung und Neugestaltung der sozialpolitischen Grundlagen. Der ökonomische Transfer in Familien mit Kindern und Jugendlichen muss verstärkt werden. Vor allem einkommensschwache Familien müssen dabei vorrangig berücksichtigt werden. Gleichzeitig ist eine zugangsoffene und in der Regel gebührenfreie Bildungs- und Sozialinfrastruktur von Kindertageseinrichtungen, Schulen, außerschulischer Bildung und Förderung, sozialen Angeboten in Einrichtungen und Vereinen usw. erforderlich. Schließlich müssen besondere Bedarfe (bei Krankheit, Behinderung, besonderen Lebenslagen) und die Lebensrisiken für Kinder und Jugendliche deutlich besser abgesichert werden. Das Teilhabepaket und die aktuellen gesetzlichen Grundlagen sind ungeeignet ein solches „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ zu verwirklichen.

Umsetzungsprobleme

Neben grundlegenden Fehlern, wie der fragwürdigen Berechnung der Regelsätze,  gibt es gravierende Umsetzungsprobleme beim Bildungs- und Teilhabepaket, die vor allem Träger und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betreffen.

  • Akkreditierungsprobleme: Anbieter von Freizeiten und außerschulischen Bildungsmaßnahmen müssen sich als Erbringer von Leistungen akkreditieren lassen. Dies ist aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe überflüssig, da durch die Anerkennung als freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe deren Qualität durch die Jugendämter bereits überprüft wurde. Viele Jobcenter waren bis zum Sommer wegen Mangel an entsprechenden Umsetzungsanweisungen oder aus Überlastung nicht in der Lage, Akkreditierungen vorzunehmen. Während für den Sport ein entsprechender Rahmenvertrag geschlossen wurde, müssen alle weiteren Träger das unnötige Akkreditierungsverfahren durchlaufen.
  • Mangelnde Höhe der Teilhabeleistungen: Die angesetzten Summen (10 Euro/Monat) sind nicht ausreichend, um eine hinreichende Beteiligung zu ermöglichen. Selbst kostengünstigste Ferienmaßnahmen der Kinder- und Jugendarbeit wie ein Zeltlager in der Nähe des Wohnortes sind damit nicht zu finanzieren. Eine wirkliche Teilhabe setzt die Möglichkeit zur regelmäßigen Teilnahme (Vereins- oder Gruppenbeiträge), Teilnahme an Veranstaltungen wie Ausflügen, Ferienfahrten sowie ggf. Ausstattung (Sportmaterial, entsprechende Kleidung, …) voraus.
  • Die Wahlmöglichkeiten sind massiv eingeschränkt, vor allem die private Organisation von Aktivitäten bleibt ausgeschlossen. Zu Teilhabe gehören auch Aktivitäten wie selbstorganisiertes Reisen, die „eigene“ Band, kulturelle Angebote usw.
  • Große Probleme gibt es offenbar bei der Umsetzung der Nachhilfe. Die hier angesetzten Hürden (Versetzungsgefährdung statt Leistungsprobleme) führen offenbar zu einer restriktiven Bewilligungspraxis. Der oft praktizierte Rückgriff auf professionelle Nachhilfeinstitute ist unwirtschaftlich im Vergleich zur Möglichkeit regelhafter Nachhilfe/Förderung in Schule und Betreuungseinrichtungen wie Horten, Jugendtreffs usw.
  • Die Umsetzung des Mittagessens in der Schule und in Kindertagesstätten ist äußerst aufwändig. Das Antragsverfahren belastet Eltern und Einrichtung massiv. Der Eigenanteil (1 Euro je Mahlzeit) ist nach wie vor zu hoch und führt oft dazu, dass ihn arme Familien mit mehreren Kindern nicht aufbringen können. Viele Kommunen hatten bereits kostenfreies Mittagessen in Horten und Schulen für Bedürftige eingeführt und haben diese Programme nun eingestellt. In diesen Fällen bedeutet das Bildungs- und Teilhabepaket sogar eine Verschlechterung.
  • Ähnliche Substitutionseffekte lassen sich im Hinblick auf die Mobilitätspauschalen bei kommunalen Sozialtickets für den ÖPNV feststellen. Die Mobilitätsbeihilfen sind bezogen auf die schulische Teilhabe. Glücklicherweise ist durch Schüler/-innen-Monatsfahrkarten oft eine weitergehende Nutzung des ÖPNV möglich. In Anbetracht der hohen Abhängigkeit junger Menschen vom ÖPNV sollte der freie Zugang auch für arme Kinder und Jugendliche die Regel sein. Weiter fehlt es an Antworten für die jungen Menschen, die in Armut in Regionen ohne ausreichendes ÖPNV-Angebot leben.
  • Vom Bund fließen erhebliche Summen für den Ausbau der Schulsozialarbeit an die Kommunen. Dennoch sind bis heute in vielen Kommunen keine konkreten Initiativen zum zusätzlichen Ausbau der Schulsozialarbeit erfolgt. Die Befristung des Programmes bis 2013 verstärkt den Effekt, dass keine neuen Stellen geschaffen werden, sondern bestehende refinanziert werden, auch wenn dies das Gesetz eigentlich ausschließt.
  • Uneinheitliche Verwaltungs- und Bewilligungspraxis: Regional und mit Blick auf die befassten Behörden ist eine hochgradig uneinheitliche Umsetzungspraxis festzustellen. Dies erschwert die Beratung und Begleitung betroffener Familien. Der Antrags- und Verwaltungsaufwand ist im Vergleich zu den umgesetzten Summen hochgradig ineffektiv.
  • Der bürokratische Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Dies betrifft sowohl Kommunen als auch die freien Träger der Jugendhilfe. Die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets erfordert von den Kommunen einen erhöhten Personaleinsatz, der um so weniger aufgebracht werden kann oder darf, je prekärer ihre eigene Haushaltslage ist.
  • Auch die Jugendverbände müssen auf allen Ebenen zusätzliche haupt- und ehrenamtliche Ressourcen aufwenden, um ihren Mitgliedern eine Teilhabe am Bildungs- und Teilhabepaket zu ermöglichen. Diese Ressourcen fehlen dann an anderer Stelle.

Forderungen

  • Die Sicherstellung der ökonomischen Basis für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist eine gesamtgesellschaftliche und staatliche Aufgabe. Dafür sind endlich sowohl angemessen ausgestattete Transfersysteme als auch eine leistungsfähige Sozial- und Bildungsinfrastruktur erforderlich.
  • Die Umsetzung der Teilhabeleistungen muss aus der Hand der Bundes-Arbeitsverwaltung genommen und den vorhandenen Infrastrukturen – nämlich den Schulen und der Kinder- und Jugendhilfe – übertragen werden. Möglich wäre dies durch die Zahlung zweckgebundener Pauschalen an die Kommunen, die damit gebührenfreie Bildungs-, Betreuungs- und Freizeitangebote sowie ein kostenfreies Mittagessen in Betreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen für alle Kinder und Jugendlichen aus Hartz IV-Familien, vorhalten könnten.
  • Das Bildungs- und Teilhabepaket muss so angelegt werden, dass bereits bestehende Leistungen oder Angebote nicht substituiert werden können.
  • Die Ansätze für Teilhabeleistungen müssen bedarfsgerecht erhöht werden. Beiträge für die Teilnahme an Maßnahmen der außerschulischen Jugendbildung (Freizeiten, Gruppenaktivitäten) müssen ungedeckelt übernommen werden.
  • Mittagessen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen muss kostenfrei sein.
  • Mobilität muss auch abseits des Schulbesuches möglich sein, und zwar auch dort, wo das ÖPNV-Angebot eingeschränkt ist.
  • Das unsinnige Akkreditierungsverfahren für anerkannte freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe muss umgehend beendet werden. Als Sofortmaßnahme fordern wir den Abschluss von Rahmenverträgen mit den Dachverbänden der Kinder- und Jugendhilfe auf Bundes- bzw. Landesebene.

Die Jugendverbände im DBJR sehen es als ihre Aufgabe an, dazu beizutragen, für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland positive Lebensverhältnisse zu gestalten. Sie sind bereit, an der Überwindung der massiven Kinder- und Jugendarmut in Deutschland mitzuarbeiten. Dazu öffnen sie trotz massiver Finanzierungsprobleme bereits jetzt ihre Angebote, überprüfen ihre Konzeptionen und erleichtern den Zugang für Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind. Im Gegenzug erwarten sie, dass die Politik von Bundes- und Landesebene endlich ihrer Verantwortung nachkommt und die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland wirksam bekämpft.

Von der 84. Vollversammlung am 28./29. Oktober 2011 einstimmig in Ludwigshafen beschlossen.

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