Gender

Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie

Die DBJR-Vollversammlung hat am 26./27. Oktober 2012 die Position „Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie gibt es noch viel zu tun!“ beschlossen:

Die im Deutschen Bundesjugendring (DBJR) zusammengeschlossenen Jugendverbände und Landesjugendringe verstehen sich als „Werkstätten der Demokratie”. In selbstorganisierten Gruppen gestalten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität ihr Zusammenleben im Verband. Sie leben dabei beispielhaft eine demokratische Gesellschaft, in der gemeinsam gestalteten praktischen Arbeit wie in den verfassten verbandlichen Strukturen. Demokratische Interessenvertretung und Aushandlungsprozesse, der Austausch von Mehr- und Minderheitsmeinungen, gleiche Chancen und Rechte für alle sowie die gleichberechtigte Einbindung aller Beteiligten sehen wir als selbstverständlich an.

In Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter setzten sich die Jugendverbände immer wieder auch mit der Frage nach Gerechtigkeit auseinander. Die Antwort auf die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit möchte der DBJR mit dieser Position geben und an geschlechterdemokratischen Prinzipien orientieren.

Geschlechterdemokratie – Begriffsbestimmung und Auftrag

Mit dem Begriff der Geschlechterdemokratie wollen wir unsere vielfältigen, langjährig erprobten und oben beschriebenen Erfahrungen in demokratischen Prozessen auch auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander übertragen. Wir wollen allen jungen Menschen ein solidarisches und demokratisches Miteinander ermöglichen, unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität jenseits stereotyper Zuschreibungen. Wir verstehen Geschlechterdemokratie als ein Leitbild und Organisationsprinzip, das geschlechtliche Hierarchien und starre Geschlechterrollen überwunden hat.

Der DBJR setzt sich schon lange für Geschlechtergerechtigkeit ein. Innerhalb unserer Gremien leben wir daher bereits an vielen Stellen Geschlechterdemokratie und wollen kontinuierlich daran weiterarbeiten. In den verschiedenen Mitgliedsorganisationen wird dies in unterschiedlichen Konzepten praktiziert und gelebt, Rollenbilder werden immer wieder kritisch hinterfragt und reflektiert. Eine gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder, Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen in den Jugendverbänden ist uns ein wesentliches Anliegen, welches wir in unseren demokratischen Strukturen ermöglichen und vorleben.

Gleiches gilt für den Ansatz der Geschlechterdemokratie: Die parteiliche Vertretung der Interessen von Mädchen bzw. Jungen ist uns dabei genauso wichtig, wie die Bestrebung eines Ausgleichs unterschiedlicher Bedürfnisse und Anforderungen. Diesen Anspruch erheben wir an uns selbst wie auch an unsere gesamte demokratisch verfasste Gesellschaft.

Unsere Gesellschaft eine Bestandsaufnahme

Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass sowohl Frauen als auch Männer besonders in den jüngeren Generationen in unserer Gesellschaft davon ausgehen, dass Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern erreicht wäre. Angesichts der Debatte um (bildungs-)benachteiligte Jugendliche wird an mancher Stelle der Ruf laut, dass man sich nun vor allem um (bildungsbenachteiligte) Jungen kümmern müsse. Wir sind jedoch der Meinung, dass es bis zu einer echten Gleichberechtigung der Geschlechter unter dem Maßstab einer Geschlechterdemokratie noch ein weiter Weg ist!

Auch wenn Menschen bezogen auf ihr Geschlecht heute strukturell gleichberechtigter als vor 50 Jahren sind und viele junge Menschen sich subjektiv gleichberechtigt fühlen, wirken immer noch informelle und gesellschaftliche Benachteiligungsmechanismen, deren sich sowohl Frauen als auch Männer nicht bewusst sind.

Dabei sind nach wie vor vor allem Frauen strukturell diskriminiert und materiell benachteiligt; sie sind zum Beispiel häufiger von Altersarmut betroffen oder bekommen weniger Geld für gleichwertige Arbeit als ihre männlichen Kollegen. Männer erfahren beispielsweise seltener Akzeptanz für eine Teilzeittätigkeit, in Dienstleistungsberufen oder in Tätigkeiten des Sozial- und Gesundheitswesens. All dies sind keine individuellen Probleme, sondern gesellschaftliche Schieflagen, die wir verändern wollen. Wir sind überzeugt: Von den Veränderungen profitieren alle!

Im Sinne von Geschlechterdemokratie sehen wir den Auftrag nicht nur darin, diesen Umstand zu kritisieren. Demokratie verstehen wir als aktive Befähigung zur Beteiligung aller. Es geht uns darum, alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu befähigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu entdecken, diese zu artikulieren, sich für sie einzusetzen und sie schließlich auch umzusetzen.

Geschlechterdemokratie im Spannungsfeld der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Engagement

Trotz politischer Fortschritte werden auch heute noch junge Menschen mit tradierten Rollenfestlegungen konfrontiert. Junge Männer müssen beispielsweise ihren Wunsch nach Elternzeit oder flexiblen Arbeitszeitlösungen vor Vorgesetzten und Mitarbeitenden oft rechtfertigen, insbesondere in männlich dominierten Berufen. Bei jungen Frauen wird einerseits erwartet, für die Kindererziehung eine längere Zeit zu Hause zu bleiben und andererseits suggeriert unsere in weiten Teilen auf Leistung ausgerichtete Gesellschaft, dass emanzipierte Frauen sofort wieder arbeiten gehen sollten. Für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind grundlegende gesetzliche Rahmenbedingungen inzwischen zwar geschaffen worden, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz steht jedoch noch aus.

Bereits 2007 hat der DBJR in seiner Position zur Verbesserung der Ausbildungssituation und der beruflichen Integration junger Frauen auf geschlechtstypisierende Unterschiede bei der Ausbildungs- und Erwerbssituation aufmerksam gemacht. Von einer geschlechterdemokratischen Arbeitswelt scheint man auch fünf Jahre später noch weit entfernt zu sein. Obwohl junge Frauen in Deutschland inzwischen in der Summe höhere Bildungsabschlüsse vorweisen können als jemals zuvor und als ihre männlichen Altersgenossen, ist ihnen der Durchbruch durch die „Gläserne Decke“ und damit zu gut bezahlten Führungspositionen weitestgehend immer noch verwehrt.

Des Weiteren besteht nach wie vor eine Kluft zwischen Frauen und Männern, wenn es um Löhne (23 Prozent bei gleichwertigen, 8 Prozent bei identischen Tätigkeiten), Arbeitsplatzsicherheit und Status geht. Frauen arbeiten zu einem Drittel in prekären Beschäftigungen, beim Einstieg ins Berufsleben sind sie bei gleicher Produktivität und Qualifikation deutlich schlechter gestellt und dies verstärkt sich im Laufe der weiteren Berufsjahre häufig noch.

Bedingt ist dies in wenigen Fällen durch Selbstselektionsprozesse von Frauen, die einen späteren Familienwunsch antizipieren und deshalb trotz hoher Qualifikation und Eignung weniger Engagement für die Karriere aufwenden. Viel häufiger wird dies - oft auch unbeabsichtigt - Frauen im Rahmen von Bewerbungsverfahren unterstellt und damit von vornherein eine kontinuierliche Erwerbs- bzw. Karrierebiografie verhindert.

„Typische Frauenberufe“ werden zudem meist schlechter entlohnt als „typische Männerberufe“. Qualifikationen, die für mehrheitlich von Frauen ausgeübte Tätigkeiten erforderlich sind, werden zu wenig wahrgenommen, wertgeschätzt und schlechter bezahlt. Zudem handelt es sich bei Ausbildungen im Sozial- und Gesundheitswesen, die mehrheitlich von jungen Frauen absolviert werden, meist um schulische Ausbildungen, für die Schulgeld bezahlt werden muss.

Darüber hinaus ist die Frage nach Raum und Zeit für gesellschaftliches Engagement von Eltern bisher wenig diskutiert worden. In die Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Geschlechter ist daher unseres Erachtens auch die Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und gesellschaftlichem Engagement einzubeziehen.

Eine wirklich an Geschlechterdemokratie orientierte Gesellschaft braucht für junge Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität echte Wahlfreiheiten für alle Beteiligten, damit sie sich entscheiden können, wie sie Familie, Beruf und gesellschaftliches Engagement zusammenbringen.

Wenn solche Freiheiten für die jeweiligen Interessen geschaffen werden, haben junge Frauen und Männer die Möglichkeit, ihr Leben nach den jeweils eigenen Vorstellungen zu gestalten und sich sowohl dauerhaft als auch lebenslang für eine demokratische Gesellschaft einzusetzen, die dadurch auch geschlechterdemokratisch wird. Die Gesellschaft sollte nicht länger auf die Mitgestaltung und das Engagement junger Menschen, die eine Familie gründen und sich engagieren wollen, verzichten.

Deshalb fordert der DBJR

eine gezielte Förderung einer Auseinandersetzung junger Menschen mit den Geschlechterverhältnissen im Rahmen ihres Bildungswegs und der Berufsorientierung,

eine gesellschaftliche Debatte mit dem Ziel, eine ausgeglichene und gerechte Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zwischen den Geschlechtern zu erreichen,

die Gewährleistung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für gleiche und gleichwertige Arbeit (Artikel 141 des EG-Vertrages),

in Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung, Kirche und Wissenschaft auf allen Ebenen verbindliche Gleichberechtigungsquoten,

die gesellschaftliche Wertschätzung derjenigen, die für die Gesellschaft Erziehungs- und Pflegeaufgaben übernehmen,

den Professionalisierungsgrad bei Berufen, die vorrangig von Frauen ausgeübt werden, anzuerkennen und damit einhergehend die Aufwertung sowie die gleichwertige Bezahlung wie bei Berufen, die vorrangig von Männern ausgeübt werden,

den Abbau von Karrierenachteilen beim Wiedereinstieg in den Beruf nach der Kinderpause,

ein flächendeckendes und pädagogisch-professionelles Kinderbetreuungssystem ab dem ersten Lebensjahr sowie ein bedarfsgerechter Ausbau von Einrichtungen zur Pflege,

verbesserte Bedingungen für ein Studium oder eine Ausbildung mit Kindern, damit Elternschaft während der Ausbildungszeit die Chancen für einen guten Abschluss und Berufseinstieg nicht gefährdet.

den Ausbau von flexiblen, familienfreundlichen Arbeitszeitlösungen, die es jungen Menschen ermöglicht, Beruf, Familie und ehrenamtliches Engagement zu vereinbaren,

die Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten im Rahmen der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme und die Beseitigung finanzieller Nachteile für erziehende, betreuende und pflegende Erwerbstätige,

eine aktive Personalpolitik für junge Menschen, die geschlechtsspezifische Maßnahmen beinhaltet, die bisherige Rollenverhalten ausgleichen lehrt sowie

die Möglichkeit für jede_n, in allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen eigene Talente einbringen zu können und zur Familiengründung, die kein Karrierehindernis oder ein wirtschaftliches Risiko darstellt.

Geschlechterdemokratie eröffnet neue Formen politischer Repräsentation

Zurzeit nehmen wir als Jugendverbände eine ungleiche Geschlechterverteilung an politischen Ämtern und Gremien wahr. Seit den 1980er Jahren nimmt die Zahl der im EU-Parlament, im Bundestag und in den Länderparlamenten vertretenen Frauen zwar kontinuierlich zu, sie liegt durchschnittlich aber immer noch bei nur 30 Prozent. Auch ihr Mitgliederanteil in politischen Parteien liegt durchschnittlich bei nur 30 Prozent. Zwar liegt die Richtlinienkompetenz der Regierung zum ersten Mal in der deutschen Geschichte in der Hand einer Frau, allerdings sind auch in der aktuellen Bundesregierung nur sechs Ämter mit Frauen und zehn mit Männern besetzt. Die Ursachen für die unterdurchschnittliche Repräsentation von Frauen in politischen Ämtern sind vielfältig.

Auch die Ergebnisse des Freiwilligensurveys (1990 bis 2009) bestätigen, dass Männer und Frauen zwar ähnlich interessiert an Politik sind, es zeichnet sich aber eine deutliche geschlechterheterogene Präferenz bestimmter Themen ab. Nach wie vor spiegeln sich verankerte Rollenmuster zur Arbeitsteilung der Geschlechter im Privaten, in der Gesellschaft und im Beruf ebenso in der Zivilgesellschaft wider. Männer bevorzugen demnach häufiger politik- und berufsbezogene Tätigkeiten, während Frauen sich öfter in sozialen und gesundheitsbezogenen Tätigkeiten einbringen.

Die grundsätzliche politische Partizipation jedoch z. B. gemessen an der Beteiligung an Wahlen – ist bei Frauen und Männern nahezu gleich.

Ferner liegen Gründe in gewachsenen Hierarchien, Organisationskulturen und Themenschwerpunkten, die bislang eher männlich konnotiert waren, die oftmals schwer zu durchbrechen sind. Darüber hinaus berücksichtigen die Arbeitsweisen politischer Parteien und die Mitarbeit in politischen Gremien nicht ausreichend, dass bisweilen unterschiedliche Arbeitsweisen bevorzugt bzw. sozial erlernt werden; und daher gegebenenfalls unterschiedliche Rahmenbedingungen oder Methoden gebraucht werden, um gut mitwirken zu können.

Das Setting von politischen Versammlungen (großes Plenum, Redepulte, zeitliche Abstände von Meldung und Wortbeitrag etc.) begünstigt wortgewandte und wortgewaltige Persönlichkeiten. In unserer Wahrnehmung handelt es sich dabei um Persönlichkeiten mit einem Profil, das bisher oft als männlich verstanden wird. Durch andere Formen der Rückmeldung – etwa Stimmungskarten, schriftliche Rückmeldebögen u.a. – können auch Versammlungsteilnehmende mit anderem Persönlichkeitsprofil angemessener beteiligt werden.

Geschlechterdemokratie im politischen Sinne ist erreicht, wenn alle ihre Rechte wahrnehmen können und die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden, gegenseitig respektiert werden. In unseren Verbänden setzen wir dies an vielen Punkten um, zum Beispiel in der paritätischen Besetzung von Leitungsgremien. Es bleibt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, auf allen Ebenen die Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität zu ermöglichen.

Im Sinne echter Geschlechterdemokratie brauchen wir bereits auf dem Weg zur Entscheidungsfindung hinreichend geschlechtersensible Möglichkeiten der Einbindung, damit alle Beteiligten ihre Rechte und Interessen angemessen vertreten können.

Der DBJR fordert daher

blockierende Zugangshemmnisse zu politischen Gremien abzubauen,

angemessene Beteiligungsmöglichkeiten in politischen Gruppierungen und Gremien sowie eine transparente Entscheidungsfindung,

von Parteien und politischen Gremien Maßnahmen zum Aufbrechen gewohnter Kommunikations- und Versammlungsstile, insbesondere das Erkennen von Handlungsweisen, die typischerweise einem Geschlecht zugeschrieben werden oder oft in einer Geschlechtergruppe zu finden sind und deren gezielten Ausgleich,

von den Medien eine nicht von Geschlechterstereotypen geleitete Berichterstattung,

die nachhaltige Förderung von Jugendverbänden als Lernorte für demokratisches Handeln, die jungen Menschen ermöglicht, Teilhaberechte zu erlernen und für ein nachhaltiges politisches und gesellschaftliches Engagement auch nach ihrer Verbandszeit zu sensibilisieren sowie weiterhin

die Ermöglichung der Vereinbarkeit von (gesellschafts-)politischem Engagement mit Beruf und Privatleben.

Fazit

Mit dem Prinzip der Geschlechterdemokratie entwickelt der DBJR seinen Ansatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter weiter. Er übernimmt die etablierten Ansätze demokratischer Teilhabe junger Menschen für die Geschlechterperspektive und stellt aus dieser heraus konkrete Forderungen an Politik, Verwaltung und Gesellschaft.

Der DBJR hat auf dem Weg hin zu mehr Geschlechterdemokratie in seinen Gremien und Arbeitsweisen in den letzten Jahren entscheidende Schritte getan. Aber auch hier können wir gemeinsam noch viel erreichen!

Mit den formulierten Forderungen wollen wir darüber hinaus auch gesellschaftlich für geschlechterdemokratische Entscheidungen, Prozesse und Perspektiven eintreten.

Von der 85. Vollversammlung am 26.|27.10.2012 in Berlin mehrheitlich bei 6 Enthaltungen und 4 Gegenstimmen beschlossen.

Themen: Gender