Vollversammlung Gender

Jugend bleibt vielfältig – Jugend bleibt Queer

Die Vollversammlung des Bundesjugendrings hat am 27./28.10.2023 die Position „Jugend bleibt vielfältig – Jugend bleibt Queer“ beschlossen.

Das Jahr 2023 verspricht für queere Menschen viel Veränderung. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz und dem Nationalen Aktionsplan "Queer leben" liegen zwei institutionelle Ansätze queerfreundlicher Politik vor. Doch nach wie vor sind viele queere Menschen, vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, in ihrer Identitätsfindung mit vielen Herausforderungen und Problemen konfrontiert. Diese reichen von unzureichenden Unterstützungsangeboten über Anfeindungen bis hin zu Gewalterfahrungen.

Als Jugendverbände und Landesjugendringe nehmen wir wahr, dass viele queere junge Menschen in Bildungseinrichtungen oder Arbeitsstätten beleidigt oder lächerlich gemacht werden. Die eigene Queerness zu leben, ist häufig mit Ängsten verbunden. Die negativen Erfahrungen und Ängste führen dazu, dass ein Coming-Out mit einer enormen mentalen Last verbunden ist. Besonders die Heteronormativität und die gesellschaftliche Normalisierung von Nicht-gleichgeschlechtlichen Paaren
sowie cis-geschlechtlichen Personen führen zu Ausgrenzung und Ängsten. Dies macht queere junge Menschen häufiger anfällig für psychische Erkrankungen.[1]

Aus aktuellen Anlässen, wie dem politischen Vorhaben zur Verabschiedung eines Selbstbestimmungsgesetzes und dem 2022 veröffentlichten Aktionsplan "Queer leben!" der Bundesregierung wie vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren wahrgenommenen ansteigenden gemeldeten Gewalttaten gegen queere Personen, erweitert der DBJR seine Positionen "Jugend ist vielfältig - Jugend ist queer" (2014) sowie "Rechte von trans*- und inter*geschlechtlichen Kindern und Jugendlichen stärken" (2018). Auch die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) betont in ihrem aktuellen Positionspapier "Mehr queer! Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Jugendalter. Queer-sensibles pädagogisches Handeln in der Jugendarbeit."[2] die Bedeutung der Anliegen und Interessen von queeren jungen Menschen für die Praxis der Jugendarbeit und formuliert konkrete fachliche Erfordernisse zur Weiterentwicklung von Angeboten unter Berücksichtigung eines queer-sensiblen Ansatzes in der Jugendarbeit.

Selbstbestimmungsgesetz

Die Jugendverbände und Landesjugendringe begrüßen die Abschaffung des menschenfeindlichen Transsexuellengesetzes durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz, welches u.a. von TIN (Trans-, intergeschlechtlichen und nicht- binären) Personen lange erwartet wurde. Der Entwurf stößt grundsätzlich auf weitgehende Zustimmung. Dabei widersprechen wir klar der öffentlich wahrnehmbaren Kritik, dass ein solches Gesetz eine Gefahr der Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen darstellen könne. Dennoch gibt es derzeit noch deutliche Lücken und unzureichende Neuerungen, die hier in Ergänzung zur Stellungnahme des Bundejugendrings zum Referent*innenentwurf[3] hervorgehoben werden sollen. Wir sind überzeugt, dass Kinder und Jugendliche unabhängig ihres Alters für sich einstehen können und dass Altersgrenzen willkürlich gesetzt sind. Das Selbstbestimmungsrecht gilt nicht erst mit 14 oder 18 Jahren, sondern für alle Menschen gleichermaßen und somit auch für alle Kinder und Jugendlichen. Folgenden Punkte sind aus unserer Sicht veränderungsbedürftig, um ein gutes Selbstbestimmungsgesetz auch für junge Menschen zu verabschieden:

  • Junge Menschen ab 14 Jahren müssen ohne die Zustimmung ihrer Eltern die Erklärung über die Änderung ihres Geschlechtseintrags und ihres Vornamens abgeben können. Daher ist es nur konsequent ihnen auch die Mündigkeit in der Entscheidung über die eigene geschlechtliche Identität zuzugestehen.
  • Ein Selbstbestimmungsgesetz, das TIN Personen und die Prozesse der geschlechtlichen Selbstbestimmung ernst nimmt, braucht keine Fristen, die die Angst wiederspiegeln, Personen würden überstürzt und unüberlegt ihren Geschlechtseintrag und Vornamen ändern.
  • Kein Gesetz und insbesondere ein Gesetz, das TIN Personen in Schutz nehmen soll und sie stärken soll, darf Täter-Opfer-verkehrende Narrative aufgreifen, weder im Gesetzestext noch in seiner Begründung. Wir verurteilen die öffentliche Debatte um das Hausrecht, die TIN Personen immer wieder als Gefährdung darstellt.
  • Das Offenbarungsverbot sollte keine Ausnahmen enthalten, auch um die Selbstbestimmung junger Menschen und die Anerkennung der eigenen Identität zu stärken. Die Entscheidung zu einer Auskunft über ehemalige Eintragungen muss bei der betroffenen Person liegen.

Darüber hinaus sehen wir weiteren Regelungsbedarf für die Bereiche Sport, finanzielle Zuwendung zum Ausbau von auf die Bedarfe und Lebenssituation junger Menschen spezialisierten Beratungstellen und Zugänge zu medizinischen Maßnahmen und therapeutischen Angeboten

Nationaler Aktionsplan "Queer leben"

Die Jugendverbände und Landesjugendringe begrüßen die Einführung des Nationalen Aktionsplans "Queer leben", der auf die Stärkung der Akzeptanz und des Schutzes sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ausgerichtet ist. Der Nationale Aktionsplan kann die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von queeren Kindern und Jugendlichen verbessern. Insbesondere auch, weil sein Ziel ist, queeres Leben zu stärken, mehr zur gesellschaftlichen Gleichstellung beizutragen und dafür benötigte Ressourcen zugänglicher zu machen. Allerdings fehlen konkrete und ausreichende Maßnahmen, die queere Kinder und Jugendliche direkt erreichen und mit einbeziehen. Darüber hinaus stellen wir fest, dass Beratungsstrukturen für junge Menschen - insbesondere in ländlichen Regionen - nicht ausreichend vorhanden sind und dringend ausgebaut werden müssen. Unter Beteiligung junger Menschen erwarten wir hier Verbesserungen und Ergänzungen.

Queeres Leben im formalen Bildungssystem

Das formale Bildungssystem nimmt viel Raum im Leben junger Menschen ein. Ängsten und Anfeindungen, die innerhalb dieses System erlebt werden, könnte mit einer diversitätssensiblen Pädagogik entgegengewirkt werden. Notwendig sind strukturelle Änderungen in den Lehrplänen für Schulen - vor allem im Sexualkundeunterricht wie auch in Fächern wie Religion und Sport - und die Sensibilisierung und Qualifizierung des Lehrpersonals. Lehrkräfte sollten darüber hinaus bestärkt werden, Gestaltungsfreiräume queersensibel zu gestalten. Durch die Berücksichtigung queerer Lebensrealitäten beispielsweise in der Erstellung von Schul-, Unterrichtsmaterialien und Aufgabenstellungen kann die wirkmächtige Heteronormativität relativiert werden. Neben Schule sind auch Lehrende in schulischen und dualen Ausbildungsgängen sowie Ausbilder*innen in Betrieben und Lehrende in Fachhochschulen und Universitäten queersensibel weiterzubilden.

Queeres Leben in der Jugendverbandsarbeit

Der Bundesjugendring und die in ihm zusammengeschlossenen Jugendverbände und Landesjugendringe erkennen den Entwicklungsbedarf zu queerer Jugendarbeit. Die Jugendverbände und Landesjugendringe stehen für queeres Leben ein, machen es sichtbar und wollen allen jungen Menschen ermöglichen, sich selbst zu erleben und die eigene Identität zu erkunden und zu beschreiben. Dafür braucht es sichere Freiräume, in denen genau das möglich ist.

  • Dazu gehört eine diskriminierungssensible Haltung, die stetig die gängige Praxis reflektiert. Dies bedeutet, dass wir keinen Raum für Queerfeindlichkeit bieten und es klar benennen, wenn sich unter vermeintlichen Schutzansprüchen Queerfeindlichkeit versteckt. Schutzansprüche aller marginalisierten Gruppen haben gleichermaßen Priorität und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zudem dürfen sie nicht so diskutiert werden, dass sie ein Narrativ der Täter-Opfer-Umkehr befeuern.
  • Insbesondere im Bereich der Freizeitenarbeit halten sich hartnäckig queerfeindliche Rechtsmythen z.B. mit Blick auf gemischtgeschlechtliche Unterbringung. Es braucht einen Ort, diese Fragen offen stellen zu können und faktenorientiert und fachlich zu diskturieren. Angebote des Bundesjugendrings wie die Werkstatt Jugendreisen, die u.a. Austausch unter den Jugendverbänden zu und Weiterentwicklung von queersensiblen Jugendreisen anbietet, sind dafür ein gutes Angebot, um queeren Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an unseren Angeboten zu ermöglichen.Bei solchen Austauschen auffallende Rechtslücken für eine rechtssichere und umfassende queersensible Jugendarbeit sollen systematisch erfasst und angemessene Lösungsvorschläge erarbeitet werden.

  • Queere Menschen sind schon immer ein Teil von Jugendverbandsarbeit und sollen so sein können wie sie sind, egal ob als Teilnehmer*innen, Teamer*innen oder als Teile von Vorständen. Als Bundesjugendring, Jugendverbände und Landesjugendringe sorgen wir dafür, dass sich junge Menschen mit einer queeren Perspektive mit ihren Impulsen einbringen können.

  • Veranstaltungen queersensibel zu gestalten ist Auftrag aller Jugendverbandsarbeit. In der Erstellung und Fortschreibung von Schutzkonzepten ist es wichtig zu überprüfen, ob queere junge Menschen in ihrer Schutzbedürftigkeit ausreichend beachtet werden. Dazu braucht es immer wieder das Engagement, auch in externen Tagungshäusern dafür zu sorgen, dass sich alle wohlfühlen.

  • Jugendverbandsarbeit muss dabei ein Ort sein, an dem die Interessen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten gesehen und geschützt werden. Hierbei muss es gelingen die Selbstorganisation und demokratische Aushandlungsprozesse junger Menschen ernst zu nehmen, zu fördern und zu nutzen. Insbesondere bei Freizeiten und in der Bildungsarbeit müssen Teilnehmende beteiligt werden bei der Entwicklung und der Umsetzung von Verabredungen zum Minderheitenschutz.

  • Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit rund um romantische, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist eine wichtige Dimension innerhalb der Jugendverbandsarbeit. Dabei geht es darum, Bewusstsein für unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen zu schaffen, um über Themen wie Freundschaften, Sex, Liebe und Lust ins Gespräch zu kommen und sie verantwortlich zu leben. Dadurch kommen die Jugendverbände ihrem Ziel nach, Sichtbarkeit für queere Identität zu schaffen.

Der Bundesjugendring sollte weiter die Mitgliedsorganisationen mit Austauschformaten und Informationsmöglichkeiten unterstützen, die anregen, eine diskriminierungssensible Jugendverbandsarbeit zu fördern, sexuelle Bildung divers zu gestalten, safer spaces zu schaffen und Vernetzung zu stärken.

Forderungen

Das Leben von queeren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist in unser Gesellschaft von großen Herausforderungen, Hürden und Problemen gekennzeichnet. Damit sich dies verändert, fordern wir, dass

  • queere junge Menschen konsequent an der Queerpolitik beteilgt werden, insbesondere in den Nationalen Aktionsplan "Queer leben!". Dieser sollte um Maßnahmen erweitert werden, die sich an junge Menschen richten.

  • die Forschung zu Lebenslagen junger queerer Menschen ausgebaut wird, um fundierte Handlungsgrundlagen für die pädgogische Praxis zu schaffen. Insgesamt sollte die Auseinandersetzung mit queeren Perspektiven in Wissenschaft und Forschung - auch als Querschnittsdisziplin - stärker unterstützt werden. Alle Gruppen der queeren Community - auch oft übersehen Gruppen wie intergeschlechtlichen Personen - sollen hierbei Beachtung finden

  • der Bund seinen Einfluss bei den Ländern geltend macht, um eine Qualifikation von Queersensibilität für Lehrpersonal zu erwirken, Queerbeauftragte einzusetzen, Antidiskriminierungskonzepte an Schulen zu fördern, queere Selbstorganisation an Schulen zu stärken und einen professionellen Umgang mit Queerfeindlichkeit zu sichern.

  • der Bund seinen Einfluss bei den Ländern geltend macht, um curicculare Änderungen in den Schulfächern Biologie (Sexualkundeunterricht), Sport und Religion herbeizuführen, die Alternativen zu heteronormativen Beziehungskonzepten sowie diverse Geschlechtsidentitäten respektieren. Dies sollte auch Eingang in Unterrichtsmaterialien und die Auswahl von Literatur finden.

  • die Beratungsstrukturen für queere junge Menschen deutlich ausgebaut und Vernetzungsmöglichkeiten für Bildungseinrichtungen und Angebotsträger queerer Arbeit geschaffen werden. Dieser bedarf es besonders im ländlichen Raum.

  • die Hasskriminalität gegenüber queeren Personen statistisch ausgiebiger erhoben wird und dass ihr konsequent entgegengewirkt wird.

  • mehr finanzielle Mittel zum Ausbau queersensibler Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit zur Verfügung gestellt werden.

  • sanitäre Anlagen, Umkleiden und andere betroffene Räumlichkeiten, insbesondere in öffentlichen Gebäuden, so umgestaltet werden, dass sie alle Geschlechter berücksichtigen.

  • die Zustimmungspflicht von Sorgeberchtigten zur Personenstandsänderung Jugendlicher ab 14 Jahren abgeschafft wird, ebenso wie die dreimonatige Terminfrist (§2 Abs. 4).

  • der §6 Abs. 2 zum Hausrecht gestrichen wird. Das Hausrecht gilt auch ohne das SBGG

  • der §9 ersatzlos gestrichen wird

  • dass die Offenbarung des Vornamens und Geschlechtseintrags geschützt wird. Auch für Verwandte muss das Offenbarungsverbot - anders als in §13 geregelt - gelten.

 

Einstimmig beschlossen auf der Vollversammlung am 28.10.2023 in Berlin.

 

1 vgl. auch Deutsches Jugendinstitut - DJI Impulse 2/2018 über die Lebenssituation von Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind

2 https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2023/Positionspapier_Mehr_queer.pdf

3 Vgl. https://www.dbjr.de/artikel/zum-referentinnenentwurf-eines-selbstbestimmungsgesetzes

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